Mist. Nicht fertig geworden. Zwei Seiten fehlen.
*schraubt zusammen (Achtung, lang)
Pennsylvania Dutch
Stechlin acht Kilometer, Neuglobsow sechs, Rheinsberg zwölf: Eine ältere Dame mit Sommerhütchen steht draußen und studiert die Hinweisschilder in die Umgebung. Ihr Blick fällt immer wieder auf unser Haus. Ein Schinkelhaus. Okay, nicht wirklich Schinkel, aber Schinkelstil. Weiß, klassizistisch, betont durch eine himbeerrote Malve an der Fassade. Meine Frau Phoebe und ich haben es vor ein paar Jahren geerbt. Eine Hofreite, 1872 gebaut.
„Karl Schinkel war der Richard Meier des 19. Jahrhunderts“, erkläre ich Phoebe zum zweiundvierzigsten Mal.
Phoebe kann es nicht mehr hören. Sie interessiert sich weder für den deutschen Architekten Karl Friedrich Schinkel noch für den amerikanischen Stararchitekten Richard Meier. Sie interessiert sich nur für ihren Bauerngarten. Zieht Zucchini, Fenchel, Lauch, Schalotten, Rote Bete. Wenn eines Tages die Russen in unser Dorf einmarschieren, können wir sie zwei Wochen lang mit unseren Vorräten durchbringen.
„Wir haben letztes Jahr seinen 225. Geburtstag gefeiert.“
„Meiers?“
„SCHINKELS!“
„Die Frau da drüben macht mich verrückt, Christopher.“ Phoebe starrt auf die andere Straßenseite. „Was will die bloß? Dauernd schaut sie her!“
In der Tat: Es ist nicht zu übersehen, dass die Frau uns unter Beobachtung hat. Mittlerweile ist sie zur Bushaltestelle geschlendert und liest den Fahrplan. Immer unsere Haustür im Blick.
Erneut versuche ich, Phoebes Aufmerksamkeit zu erringen: Schinkel war der bedeutendste Architekt Preußens, 1781 in Neu-Ruppin geboren, baute nicht nur in Berlin, sondern auch in der Provinz. Machte zusammen mit dem Preußenkönig Friedrich dem Großen und dem Landschaftsarchitekten Peter Paul Lenné aus dem öden Agrarland Brandenburg eine Kulturlandschaft. Wenigstens für Lenné könnte die Gartenkünstlerin Phoebe sich interessieren. Der Mann hat ganz Brandenburg umgegraben; Parks geschaffen, zusammen mit Schink...
„Sie wohnt in der Waldpension Lillian Harvey", weiß Phoebe.
„Wer?“
„Die Frau da drüben! Lorna Sauter. Eine Pennsylvania Dutch.“
Lorna. Der Name gefällt mir. Er klingt wie Marilyn Monroe oder Lauren Bacall oder Rita Hayworth. Wie Frauen aus dem amerikanischen Westen. Oder – eben Pennsylvania.
"Sie kommt aus Ott´s Place."
In meinen kanadischen Ohren klingt das wie „Odd´s Place“, merkwürdiger Platz. „Ich wette, sie kennt Schinkel“, träume ich, „im Gegensatz zu dir. Touristen wissen oft mehr über Brandenburg als die Brandenburger selbst. Eine Schande. Während du, wenn du einen Schinkelbau siehst Blöde Kirche denkst, denkt Lorna: For heaven`s sake, Schinkel! Und wenn Lorna gut ist, denkt sie sogar: He reminds me of Richard Meier!“
„Du nervst, Christopher.“
„Weißt du was, ich frage Lorna! Du wirst schon sehen, sie kennt ihn.“ Meine Frau versucht, mich aufzuhalten aber schon habe ich die Tür aufgerissen und laufe über die Straße. „Hello there!“
Lorna zuckt zusammen. „Ein hübsches Haus haben Sie!“, ruft sie mir entgegen. „Entschuldigen Sie, dass ich so gestarrt habe.“
Sie spricht perfektes Deutsch. Vielleicht lebt sie in Berlin, als expatriate. So habe auch ich meinen Weg hierher gefunden. Vor ein paar Jahren habe ich Phoebe in Berlin kennengelernt, an der Uni. In einer halbjährigen akribischen Kleinstarbeit habe ich sie dazu gebracht, meine Frau zu werden. Wir zogen in das Haus ihrer Großeltern. Zur Zeit schreibe ich Kolumnen über die Deutschen in der Märkischen Oderzeitung und einem kanadischen Deutschenblatt und renoviere das Haus. Außerdem vermieten wir zwei Ferienwohnungen.
„Ich bitte Sie, ist doch kein Thema! Die Leute bleiben ständig stehen und lesen die Hinweisschilder in die Umgebung. Aber was mich wirklich interessiert: Kennen Sie Schinkel?“
„Natürlich. Ich esse ihn sehr gern! Verkaufen Sie welchen?“
„Schinkel. Einer der besten deutschen Architekten, die es je gab! 19. Jahrhundert!“
„Sehr beeindruckend! Und er ist in Ihrem Haus geboren?“ Lorna versucht herauszukriegen, was ich eigentlich von ihr will.
„Nein, aber hier in der Nähe, in Neuruppin. Unser Haus“, ich drehe mich um, „ist im Schinkelstil gebaut. Quasi alle Häuser hier. Früher war das Preußen.“
„Genau, Preußen.“ Lorna nickt mir freundlich zu. „Ich weiß Bescheid. I`m a summer frischler, you know! Ich schaue mir alles an. Heute wollte ich an den Stechlin. Die Seen hier erinnern mich an zu Hause.“
„Mich auch.“ Ich lache und gebe ihr die Hand. „Christopher Lewis. Ich komme aus Kanada.“
„Lorna Sauter. Welche Gegend denn in Kanada?“
„Toronto.“
„Da war ich noch nicht ... Aber erzählen Sie mir von dem Dorfplatz ier! Er ist so riesig!“
Dazu braucht sie mich nicht zwei Mal einzuladen. Ich setze mich auf die Bank und hole weit aus. Der Friedensplatz in unserem Dorf ist der größte Dorfplatz Deutschlands: 200 mal 400 Meter. In der Mitte steht eine Friedenseiche, 1870 nach dem Deutsch-französischen Krieg gepflanzt wurde. Auf dem Platz haben schon dänische und schwedische und französische und russische Truppen kampiert. Blücher, Napoleon, Katharina die Große: Alle waren da. Hitler. Ulbricht. Schröder. (Merkel nicht) (Noch nicht) Ich zeige reihum: Dort gab es früher ein Lebensmittelgeschäft mit Kaffeerösterei, dort eine Tischlerei, dort eine Kohlenhandlung. Eine Metzgerei hier, eine Hebamme da, eine Fahrradreparaturwerkstatt dort. Eine Shelltankstelle an der Ecke, die Straße runter die Sattlerei, die Böttcherei, ein Friseur. Und heute? Nichts mehr. Nur noch ein Geschäftchen auf der Hauptstraße. Nur für das nötigste.
„Der ehemalige Konsum.“
„Genau.“
Lorna kennt sich wirklich gut aus. Sie lässt ihren Blick über den Platz schweifen. „Viele Städte würden sich freuen, einen solchen Platz zu besitzen, Christopher. Schauen Sie nur - wie klein die Menschen auf der anderen Seite sind!“ Sie deutet auf einige Radfahrer, die es sich für ein Picknick auf der Wiese bequem gemacht haben. „Alles das ist sehr nah aufeinander. Die Häuser, meine ich.“
Ich nicke ihr zu. „Das macht das Zusammenleben ja so spannend.“
Lorna betrachtet unser Haus. „Wissen Sie, ich bin auf der Suche nach meinen Vorfahren. Mein Nachname ist Sauter. Eine Frau namens Sauter hat in Ihrem Haus gewohnt, vor ungefähr 150 Jahren.“
Eine Vorfahrin von Lorna in unserem Haus? Ich schleife sie über die Straße in unsere Küche; sehr zu Lornas („Mein Bus!“) und Phoebes („Ich sehe furchtbar aus!“) Überraschung.
„Liebling, darf ich dir Lorna vorstellen? Ihr Nachname ist Sauter, ihre Urururururoma hat in diesem Haus gewohnt und ihr seid vielleicht Verwandte!“, extrapoliere ich.
Triumphierend blicke ich sie an, stolz, in der kurzen Zeit so viel herausgefunden zu haben. Lorna wiegelt mit „Urururur-keine-Ahnung“ ab und Phoebe hasst mich, weil ich sie mal wieder in Verlegenheit bringe. Während sie in die Küche eilt, um Tisch und Stühle von unserem Plunder freizuräumen, führe ich Lorna durchs Haus: momentan eine Baustelle. Wir richten auf dem Dachboden ein drittes Appartement ein.
Ich erkläre Lorna die Bauarbeiten. „Der Boden ist jetzt fertig, die Säcke mit der Holzwolle sind oben, die Treppe ist heraus- und an anderer Stelle wieder hereingemacht; der Boden des anderen Dachbodens, also der über dem eigentlichen Dachboden, ist herausgerissen und wird jetzt wieder hereingemacht. Wenn wir damit fertig sind, fehlen nur noch Fenster und Wände und wir haben einen neuen Dachboden!“
Lorna konnte mir nicht folgen und ich fange nochmal von vorne an. „Der Boden, Lorna, ist drin. Die Säcke mit der Holzwolle ...“
„Herrgott, Christopher, lass Lorna in Ruhe! Du langweilst sie zu Tode!“, ruft Phoebe. „Kommen Sie lieber herunter, Lorna, ich habe Kaffee gemacht! Lassen sie ihn einfach stehen!“
Bei einem Stück Zwetschgenkuchen erzählt Lorna, warum sie in unserem Dorf ist. Vor einem Jahr starb ihr Mann und sie wusste nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Irgendwann beschloss sie, eine Familienchronik zu schreiben (das machen Amerikaner ja gern) (okay, Kanadier auch) und sie fand viel raus. Sie zeigt uns ein Fotos von zu Hause. Typisch Amerika, das Kaff aus dem sie kommt. Gesichtslos, eigentlich nur eine Straßenkreuzung. Aber die Häuser unverkennbar deutsch.
Fast Schinkel.
Lorna ist seit drei Wochen hier. Die Spuren ihrer Familie in unserem Dorf reichen zurück bis ins 19. Jahrhundert. Sauters waren Waldarbeiter gewesen, gehörten zu den Kolonisten, die jenseits des Kanals eine neue Siedlung gründeten („Was man früher Kolonisten nannte! Sie kamen aus Berlin!“, ruft Phoebe). Friedrich der Große hat Riesenprogramme aufgelegt, um Brandenburg zu besiedeln. Er gab denen Geld, die mit ihren Familien aufs Land zogen und es urbar machten. Die Leute hatten Steuerfreiheit, brauchten keinen Militärdienst zu leisten und bekamen einen eigenen Prediger.
„Also wie ist es, Phoebe, hast du in deiner Familie Leute, die Sauter hießen?“, frage ich gespannt.
„Sauter ... ich weiß nicht ... vielleicht ... da klingelt was ... da müsste ich mal rumfragen ... es gibt eine Legende von früher, dass eine Frau von dem abgebrannten Gehöft von außerhalb ins Dorf zog. Sie bekam drei Kinder. Eines Tages fand man sie erschlagen im Wald auf dem Weg zum See. Den Mörder hat man nie gefunden und die Kinder wurden von der Dienstmagd aufgezogen. Später verschwand ein Kind, und es hieß, es sei im Keller verscharrt worden.“
Lorna hüstelt. Ich sehe ihr die Neugier an. Aber auch die Bedenken, sich uns nicht aufzudrängen zu wollen. Ich habe einen Einfall.
„Es gefällt Ihnen doch nicht in der Waldpension, Lorna! Warum ziehen Sie nicht zu uns?“
„Du kannst doch nicht unseren Nachbarn ihre Feriengäste abjagen, Christopher!“, zischt Phoebe.
„Kann ich sehr wohl, liebe Phoebe! Lorna ist alleinreisend. Was soll sie in einer Familienpension? Bei uns ist es lustiger! Und interessanter!“
Lornas Blick pendelt zwischen uns hin und her.
„Sie haben die Ruine praktisch für sich!“, preise ich unsere Ferienwohnung an.
„Wir nennen es nur Ruine, Lorna“, beruhigt Phoebe. „Es ist ein hübsches kleines Häuschen mit Garten. Trotzdem ist der Komfort natürlich nicht vergleichbar mit der Waldpension ...“
„Unsinn! Wir haben SAT-Fernsehen und DVD-Recorder. Sie können jeden Morgen ABC gucken. Und in der Küche ist ein ausziehbarer Esstisch, ideal zum Schreiben von Familienchroniken. Ein Geschirrspüler, ein Kühlschrank! Haben Sie in der Waldpension einen Geschirrspüler, Lorna?“
„Was soll Lorna in der Waldpension mit einem Geschirrspüler ...“
„Alte Möbel und Spitzendeckchen! Ihr Amerikaner liebt das doch! Alles Original, Klöppeldingsda.“
Phoebe wird ernst. „Was bezweckst du eigentlich mit deiner Ahnenforschung, Lorna?“
Lorna bezweckt nichts. Sie will wissen, wer ihre Leute sind.
„Das kann aber auch schiefgehen“, murmelt Phoebe. „Manchmal will man es gar nicht so genau wissen.“
„Ich schon. Meine Familie ist Ende des 19. Jahrhunderts ausgewandert. Sie sind keine Nazis und keine Stasi. Schlimmer kann es ja wohl nicht kommen.“
Sie nimmt unsere Wohnung und zieht aus der Waldpension aus. Jeden Tag arbeitet sie an ihrer Familienchronik. Sie trägt sehr viel Informationen zusammen. Ihre Ahnen sind 1772 in die U.S.A ausgewandert. Das Ganze war staatlich organisiert war und Vertreter der preußischen Regierung verteilten die Leute in den Staaten über das Land. Sie gingen nach Pennsylvania gingen, in ein Land, in dem die Horizonte noch weiter waren als in Brandenburg. Sie bauten ein Blockhaus, dass an die Häuser russischer Kolonisten in ihrer Heimat erinnerte. Zuerst betrieben sie eine Pferdemetzgerei, dann eine Schmiede. Später wurden sie Milchbauern. Lornas Vater studierte Agrarwirtschaft in Philadelphia. Seine Kinder Zachary und Lorna schickte er auf eine Handelsschule. Zachary hat heute noch die alte Farm im Nebenerwerb.
Lorna telefoniert mit ihm. "Das Dorf ist wunderschön, Zachary ... es würde dir gefallen ... die Landschaft friedlich ... der unseren gar nicht unähnlich ... voller uralter Alleen ... Kopfsteinpflaster ... einsame Seen ... ohne Höhen und Tiefen ... ins Endlose gezogen ... als ob man einen Weitwinkel im Auge hätte ... riesige Felder ... im Sozialismus Kollektiveigentum ... kannst du dir vorstellen, dass sie 1949 die Großgrundbesitzer enteignet haben? ... was für ein Einfall ... sie sind in den Westen ausgewandert ... die meisten jedenfalls ... Deutschland war in zwei Hälften geteilt ... bis 1984 ...“
„89!“ (Ich)
„Pscht!“ (Phoebe)
„Das Haus hab ich gefunden ... steht direkt am Dorfplatz .... ich wohne drin ... bei einem jungen Ehepaar ... einm Kanadier und seine Frau ... würde mich nicht wundern, wenn ich mit Phoebe verwandt wäre ... nein, keine Nazis ... „
„Auch keine Stasi!“ (Ich)
„Pscht!“ (Phoebe)
Es ist ein sengend heißer Sommer und das Neuroofener Forstamt gibt Waldbrandgefahr Stufe IV heraus. Das Holz ist knochentrocken und überall knistert und knackt es. Lorna und Phoebe arbeiten zusammen im Garten. Die beiden verstehen sich prächtig. Lorna liebt Phoebes Garten, was die beste Voraussetzung dafür ist, von Phoebe zurückgeliebt zu werden. Meine Frau lässt es sich nicht nehmen, sie zu bekochen. Sie hat die Theorie, dass wir auch in den „harten Wintermonaten“ viel Essen für die „Wintergäste“ zur Verfügung haben müssen (weder haben wir harte Wintermonate noch Wintergäste). Lorna ihrerseits ist fasziniert von Phoebes Manie, Vorräte anzulegen. Als befänden wir uns noch im Dreißigjährigen Krieg. Sie machen zusammen Birnen ein.
Lorna erzählt uns, wie schrecklich die Geschichte unseres Dorfs war. Dauernd wurde es plattgemacht. Es war die zentrale Einfallstraße nach Berlin für den Osten. Und für die Dänen und Schweden.
„Ist das normal für deutsche Dörfer, dass sie so eine Geschichte haben?“, fragt Lorna.
„Nein“, sage ich, „das war ein sehr umkämpftes Gebiet.“
Phoebe ergänzt: „Nur die ersten Tage und Wochen nach dem Zweiten Weltkrieg müssen furchtbar gewesen sein. Flüchtlingstrecks aus Pommern kamen durch, auf der Straße von Fürstenberg nach Rheinsberg. Viele blieben hier.“
„Was ich nicht kapiere, ist wie man so ein kleines Dorf bombardieren kann“, sagt Lorna und zeigt auf die Ruine hinter dem Haus, die nie wieder aufgebaut wurde.
„Das war ein Irrtum. Sie wollten Wolfsruh treffen, da hatten die Nazis eine Munitionsfabrik.“
„Was wurde aus dieser Fabrik?“
„Die Nationale Volksarmee hat sie übernommen. Jetzt sitzt die Bundeswehr drin.“
Wochenlang bekommen wir Lorna jetzt kaum zu Gesicht, sie recherchiert im Landkreis. Sie fährt mit unserem kleinen Fiat nach Rheinsberg, Fürstenberg. Zehdenick und Caputh. Sie unterhält sich mit einem Haufn Leuten, immer auf der Suche nach ihren Vorfahren. Das Kirchenarchiv Gransee erweist sich als Missgriff. Bis 1933 wurde es zwar akribisch geführt, aber dann kam die Nazizeit: Keine Einträge mehr. 1947 lief der Pfarrer mit fliegenden Fahnen zum Sozialismus über und machte nur noch sporadisch Einträge. Die Hälfte der Mitglieder der (altlutherischen) Kirche brach weg, die andere Hälfte blieb indifferent.
„Wir hatten eine Junge Gemeinde, die ab und zu Veranstaltung organisierte, da ging ich manchmal hin“, sagt Phoebe.
Eines Tages rennt Lorna triumphierend in unsere Küche. Sie schwenkt ein paar Kopien. „Hey, hört zu! Eure Kirche wurde 1624 aus Feldsteinen gebaut. Alle mussten helfen, diese Kirche in Schuss zu halten – die Albrechts, Wolfs, die Schellings, die Wenzels. Und, jetzt kommts: die SAUTERS“
Sie hatte ihre Verwandten gefunden.
„Zwei Brüder namens Sauter halfen mit bei der Dachausbesserung. 1746 gab es Streit um die Sitzplätze in der Kirche. Sie beanspruchten welche, bekamen sie aber nicht. Nur die Bauern hatten damals Anspruch auf Sitzplätze. Und der Dorfschulze und der Schmied. Und der Müller. Der Rest waren Hausbesetzer.“
„Hausbesitzer, Lorna.“
„Ich wünschte, ich wüsste, wer sie waren!“
„Vermutlich Kolonisten“, meint Phoebe. „Bestimmt haben sie unten am Kanal neben der Mühle gewohnt.“
Lorna hat Kopien von historischen Fotografien dabei. Vom Dorfplatz, vom alten Bahnhof, vom Restaurant, vom See, vom Kriegerdenkmal. Auch von unserem Haus. Die Aufnahme ist von der Mitte des Dorfplatzes gemacht, aus dieser Perspektive sieht es aus wie ein Gutshaus. „Der Pfarrer will sich melden, falls er noch was findet!“
„Christopher, was hältst du davon, wenn ich mal mit dem Bürgermeister rede, wegen meinen Vorfahren?“ Lorna steckt den Kopf durch die Tür.
„Er ist ein Vollidiot“, winke ich ab. „Hat keinen Sinn. er stammt auch nicht von hier. Er kommt aus Sachsen. Hat sich eine Feriensiedlung unten am See unter den Nagel gerissen, und dann ist er selbst, statt nur zu vermieten, hier hängen geblieben. Schließlich hat er sich wählen lassen. Er ist verantwortlich für lauter Schwachsinnsentscheidungen, zum Beispiel das Kopfsteinpflaster zu überteeren, die Grundschule zuzumachen und einen Speedway für Motorräder in den Neuruppiner Forst zu setzen.“
Trotzdem. Lorna will nichts unversucht lassen.
Der Bürgermeister kommt eine Viertelstunde später zur Sprechstunde. „Ich bin auf der Autobahn im Stau hängengeblieben.“ Er nickt mir zu. „Christopher.“
Ich nicke zurück. „Frank.“
Wir haben seit dem Frühjahr kein Wort mehr gewechselt.
Lorna beginnt, ihm ihre Sache auseinanderzusetzen. Sie komme aus Philadelphia, habe Vorfahren im Dorf, wolle herauskriegen, wer sie sei, und käme gern an öffentliche Unterlagen.
Frank wirft mir einen Blick zu. „Hast du ihr nicht gesagt, dass ich aus Meißen komme? Woher soll ich das wissen? Sie soll zum Archivar des Orts gehen.“
„Herrgott, Frank. Du bist der Archivar.“ Es ärgert mich schon die ganze Zeit, dass er nicht die dörfliche Liste der unnatürlichen Tode weiterführt, die 1935 endet. Als wäre seit dieser Zeit hier mehr im Dorf umgebracht worden.
„Ich kann Ihnen nicht helfen, gute Frau.“
„Die gute Frau heißt Lorna.“
„Danke, Christopher, ich kann für mich selbst reden.“
„Lorna also. Ich bin erst vor zehn Jahren hierhergezogen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wer Ihre Vorfahren waren, und warum in Drei Teufels Namen sie nach Kanada ausgewandert sind.“
„In die Staaten.“
„Warum sie in die Staaten ausgewandert sind.“
„Vielleicht können Sie uns Ihr Archiv zugänglich machen?“
Er schüttelt den Kopf. „Welches Archiv? Das Archiv ist in Gransee. Das hättest du ihr auch sagen können, Christopher.“
„Ich habe es ihr gesagt. Aber Lorna wollte dich unbedingt kennenlernen, weil ich ihr erzählt habe, was für ein dufter Typ du bist! Du hättest sie wenigstens nach ihrem Nachnamen fragen können, Frank.“
Sein Handy klingelt und er brüllt rein: „Es ist mir egal, was dein Bruder sagt, er hat noch nie auf einem Motorrad gesessen! Die Motorräder machen nicht mehr Lärm als die Sägen der Waldarbeiter. Mit dem Speedway kommen Touristen in unsere Gegend. Harley-Davidson kommt zu uns.“
Er knallt den Hörer auf. „Immer die gleiche Debatte ... Waren wir hier durch?“
„Sauter.“
Er rollt mit den Augen. „Herrgott. Halb Deutschland heißt Sauter, Lorna. Fahren Sie nach Gransee.“ Er schichtet seine Unterlagen auf dem Schreibtisch um. „War nett, Sie kennenzulernen, Lorna! Sagen Sie Ihren Landsleuten, dass die Mark Brandenburg der schönste Landstrich der Erde ist! Woher kommen Sie? Philadelphia?“
Phoebe ruft ihre Eltern an, um etwas über Sauters herauszukriegen. Onkel Franz müsste was wissen, also geht sie zu Onkel Franz. Unser Haus wurde ursprünglich nur für eine Familie gebaut, sagt er, aber nach dem Krieg wurden vier Mietparteien hineingeteilt. Zwei unten, zwei oben. Eine alleinstehende Frau mit Kind, ein Busfahrer, eine Kleinfamilie mit Zwillingen und Axel Sauter. 1962 hatte Axel genug Geld, allein zu ziehen. Aber leider starb er, vor 26 Jahren schon. Er ist immer ein Einzelgänger geblieben, hat nie geheiratet.
Wir laufen hinüber zu dem Haus. Die Fassade trägt noch den öden braunen DDR-Putz. Der Garten ist genauso groß wie unserer, zugewuchert und zugeramscht. Verrostete landwirtschaftliche Maschinen stehen herum, eine Güllepumpe, ein Mähdrescher, ein Pflug. Zwei alte Motorräder. Das Weideland völlig verfilzt. Wir finden ein offenes Kellerfenster. Ich klettere hindurch und taste mich durch das modrige Gewölbe ins Erdgeschoss. Trotz der Hitze draußen ist es drinnen kalt wie in einer Gruft. Oben lasse ich die beiden Frauen herein. Überall auf dem Boden stehen und liegen Tüten, Eimer, Körbe, zerbrochenes Geschirr, Schachteln. Ein russischer Samowar. Schubladen sind aufgezogen und Stühle umgeworfen. ein Spielplatz für Kinder. Die Zimmer sind hässlich und schmutzig, besonders das Schlafzimmer. Es besteht nur aus einfachen Holzmöbeln, Bett, Schrank, Stuhl. Kissen und Decken liegen auf dem Boden verstreut, die Matratzen sind zuoberst gekehrt und aufgeschlitzt. Schranktüren klaffen auf und alte Kleider hängen heraus.
„Du, Christopher, was ich dich fragen wollte – ich wollte mal zum Friedhof raus. Wegen Axel. Sein Grab besuchen.“
Lorna kommt zu mir auf den Dachboden geklettert. Phoebe ist in die Stadt einkaufen gefahren.
„Da findest du eine Menge alter Grabsteine. Da ist was zusammengekommen im Lauf der Jahrhunderte. Weißt du was, ich begleite dich!“
Wir gehen hinten raus. Der Sandweg zum Friedhof führt in den Wald. Der Friedhof ist lang gezogen und rechteckig. Die Grabsteine gehen zurück bis ins 17. Jahrhundert und wir lesen Namen wie Lübben, Gierick und Noack. Ein trapezförmiges Ehrenfeld ist angelegt worden für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, dahinter Urnengräber in einem Hain. Das Erbbegräbnis einer Adelsfamilie – enteignet und in den Westen geflüchtet – war zu DDR-Zeiten als Schweinefutterlager benutzt worden.
Axel Sauters Grab finden wir schnell. 81 Jahre war er geworden, der alte Axel. Auf dem Grabstein steht nur sein Name und wann er gelebt hat. Daneben sind zwei neue Gräber: Eine Maria Noack, gestorben mit 74, und eine Elisabeth Gierick, 82. Das von Maria Noack wuchert schon mit Unkraut zu.
„Viele Tote dieses Jahr“, bemerkt Lorna.
„Viel Hitze dieses Jahr.“
Neben Axel liegen andere Sauters. Von früher finden wir ein Familiengrab, fast an der Grundstücksgrenze. Erst denken wir, es könnten die Grabstellen für die Kolonisten sein, aber die haben eine eigene Abteilung.
Eines Tages steht der Pfarrer vor der Tür und fragt nach Lorna. Weil sie unterwegs ist, lässt er einen DINA4 Umschlag für sie da. Lorna will, dass ich es ihr vorlese, als sie zurück ist:
Axel war bei jeder Gelegenheit im Dorf zur Stelle und kümmerte sich gegen ein kleines Entgelt um alles Erforderliche. Er fegte die Kirche und den Gemeindesaal, reinigte für den Lehrer die Schultafel und besserte die Möbel aus. Er mähte den Dorfplatz und versorgte Inhaftierte im Gefängnis am Spritzenhaus mit Lebensmitteln. Wenn Leute früh aufstehen mussten, ging er sie wecken. Nachdem er seinen Soldatendienst absolviert hatte, eröffnete er einen kleinen Kohlenladen am Dorfplatz. Den Laden hat er 1992 zugemacht, als er in den Ruhestand ging. Nach dem Krieg trat er erst der National-Demokratischen Partei Deutschlands im Osten, der NDPD, bei, später der SED. Er unterstützte aktiv die Enteignung der Besitzer des Erbgutes Zernikow und die Bodenreform des sozialistischen Staates. In seinem Haus in der Rheinsberger Straße führte er einen Kohlenladen.
Lorna geht in Pits Bierhof, um etwas über Axel herauszukriegen. Das gelingt ihr auch. Nach großem Palaver rund um den Tisch – alle scharen sich um Lorna (erste Heiratsangebote werden gemacht) – finden sie heraus, dass der alte Axel nicht ihr letzter lebender Verwandter im Dorf ist. Es gibt noch Otto Hanke. Der führt mit seiner Frau in Neuglobsow eine Feriensiedlung und dahin soll sie fahren.
Am nächsten Morgen steht Pit vor dem Haus. Er hat ein Muskelshirt und eine ärmellose Jeansweste an und trägt eine schwere Schlüsselkette am Gürtel. Klar, dass er ein Befürworter des Speedwayprojekts im Wald ist.
„Ist Lorna da?“
Ich stehe auf dem Gerüst und repariere gerade die Regenrinne. „Was willst du von ihr?“
„Was gehts dich an?“
„Herrgott! Lorna! Besuch für dich! Ein hässlicher dicker Mann mit fettigen Haaren!“
Lorna macht sich gerade fertig, um nach Neuglobsow fahren.
„Ich komme wegen dem Broiler noch mal, Lorna.“ Pit blättert in einem Wörterbuch. „To broil heißt also kochen und über sieben Ecken heißen unsere Hähnchen hier deswegen Broiler. Beziehungsweise wie im Fall von der Menükarte in meinem Bierhof, Goldbroiler. Obwohl das Hähnchen nicht gekocht, sondern gebraten ist.“
„Gekocht heißt boiled, Pit“, sage ich, Nägel zwischen den Zähnen.
„Schnauze Ich frag Lorna.“
„Christopher hat recht. Kochen heißt to boil und so kommt der Boiler zustande.“
„Wasserboiler zum Beispiel, Pit.“
„Schnauze!“
„To broil heißt braten, und im Englischen ist das das Brathühnchen“, erklärt Lorna.
„Wirklich? Jetzt mal angenommen, ich ersetze unseren Broiler durch das hochdeutsche Hähnchen, dann würden es die internationalen Gäste schlechter verstehen?“
Ich kann nicht anders: „Welche internationalen Gäste, Pit?“
Er rüttelt am Gerüst. „Komm runter, Blödmann!“
Phoebe steckt den Kopf durchs Fenster. „Was ist hier los? Hast du sie noch alle, am Gerüst zu rütteln?“
Pit greift grüßend an seine Baseballkappe. „Dein Mann geht mir auf den Geist. Ich wollte ihn runterschütteln und vordas nächste fahrende Auto werfen.“
„Er geht uns allen auf den Geist, Pit, aber lass das Gerüst in Ruhe, ja?“
Pit wendet sich wieder Lorna zu.
„Dabei habe ich letzte Woche erst den Broiler aus der Karte genommen! Was wohl bei den Japanern wohl im Wörterbuch steht, wenn sie nach unserem Broiler suchen?“
„Keine Ahnung. Ich kann kein Japanisch.“ (Lorna)
„Ich glaube, sie suchen nach dem Wort Broiler.“ (Ich)
„Japaner in Pillgow?“ (Phoebe)
„Wisst ihr was? Ihr könnt mich mal.“
Pit zieht wieder ab.
„Neuglobsow, Christopher?“
„Neuglobsow.“
Pennsylvania Dutch
Stechlin acht Kilometer, Neuglobsow sechs, Rheinsberg zwölf: Eine ältere Dame mit Sommerhütchen steht draußen und studiert die Hinweisschilder in die Umgebung. Ihr Blick fällt immer wieder auf unser Haus. Ein Schinkelhaus. Okay, nicht wirklich Schinkel, aber Schinkelstil. Weiß, klassizistisch, betont durch eine himbeerrote Malve an der Fassade. Meine Frau Phoebe und ich haben es vor ein paar Jahren geerbt. Eine Hofreite, 1872 gebaut.
„Karl Schinkel war der Richard Meier des 19. Jahrhunderts“, erkläre ich Phoebe zum zweiundvierzigsten Mal.
Phoebe kann es nicht mehr hören. Sie interessiert sich weder für den deutschen Architekten Karl Friedrich Schinkel noch für den amerikanischen Stararchitekten Richard Meier. Sie interessiert sich nur für ihren Bauerngarten. Zieht Zucchini, Fenchel, Lauch, Schalotten, Rote Bete. Wenn eines Tages die Russen in unser Dorf einmarschieren, können wir sie zwei Wochen lang mit unseren Vorräten durchbringen.
„Wir haben letztes Jahr seinen 225. Geburtstag gefeiert.“
„Meiers?“
„SCHINKELS!“
„Die Frau da drüben macht mich verrückt, Christopher.“ Phoebe starrt auf die andere Straßenseite. „Was will die bloß? Dauernd schaut sie her!“
In der Tat: Es ist nicht zu übersehen, dass die Frau uns unter Beobachtung hat. Mittlerweile ist sie zur Bushaltestelle geschlendert und liest den Fahrplan. Immer unsere Haustür im Blick.
Erneut versuche ich, Phoebes Aufmerksamkeit zu erringen: Schinkel war der bedeutendste Architekt Preußens, 1781 in Neu-Ruppin geboren, baute nicht nur in Berlin, sondern auch in der Provinz. Machte zusammen mit dem Preußenkönig Friedrich dem Großen und dem Landschaftsarchitekten Peter Paul Lenné aus dem öden Agrarland Brandenburg eine Kulturlandschaft. Wenigstens für Lenné könnte die Gartenkünstlerin Phoebe sich interessieren. Der Mann hat ganz Brandenburg umgegraben; Parks geschaffen, zusammen mit Schink...
„Sie wohnt in der Waldpension Lillian Harvey", weiß Phoebe.
„Wer?“
„Die Frau da drüben! Lorna Sauter. Eine Pennsylvania Dutch.“
Lorna. Der Name gefällt mir. Er klingt wie Marilyn Monroe oder Lauren Bacall oder Rita Hayworth. Wie Frauen aus dem amerikanischen Westen. Oder – eben Pennsylvania.
"Sie kommt aus Ott´s Place."
In meinen kanadischen Ohren klingt das wie „Odd´s Place“, merkwürdiger Platz. „Ich wette, sie kennt Schinkel“, träume ich, „im Gegensatz zu dir. Touristen wissen oft mehr über Brandenburg als die Brandenburger selbst. Eine Schande. Während du, wenn du einen Schinkelbau siehst Blöde Kirche denkst, denkt Lorna: For heaven`s sake, Schinkel! Und wenn Lorna gut ist, denkt sie sogar: He reminds me of Richard Meier!“
„Du nervst, Christopher.“
„Weißt du was, ich frage Lorna! Du wirst schon sehen, sie kennt ihn.“ Meine Frau versucht, mich aufzuhalten aber schon habe ich die Tür aufgerissen und laufe über die Straße. „Hello there!“
Lorna zuckt zusammen. „Ein hübsches Haus haben Sie!“, ruft sie mir entgegen. „Entschuldigen Sie, dass ich so gestarrt habe.“
Sie spricht perfektes Deutsch. Vielleicht lebt sie in Berlin, als expatriate. So habe auch ich meinen Weg hierher gefunden. Vor ein paar Jahren habe ich Phoebe in Berlin kennengelernt, an der Uni. In einer halbjährigen akribischen Kleinstarbeit habe ich sie dazu gebracht, meine Frau zu werden. Wir zogen in das Haus ihrer Großeltern. Zur Zeit schreibe ich Kolumnen über die Deutschen in der Märkischen Oderzeitung und einem kanadischen Deutschenblatt und renoviere das Haus. Außerdem vermieten wir zwei Ferienwohnungen.
„Ich bitte Sie, ist doch kein Thema! Die Leute bleiben ständig stehen und lesen die Hinweisschilder in die Umgebung. Aber was mich wirklich interessiert: Kennen Sie Schinkel?“
„Natürlich. Ich esse ihn sehr gern! Verkaufen Sie welchen?“
„Schinkel. Einer der besten deutschen Architekten, die es je gab! 19. Jahrhundert!“
„Sehr beeindruckend! Und er ist in Ihrem Haus geboren?“ Lorna versucht herauszukriegen, was ich eigentlich von ihr will.
„Nein, aber hier in der Nähe, in Neuruppin. Unser Haus“, ich drehe mich um, „ist im Schinkelstil gebaut. Quasi alle Häuser hier. Früher war das Preußen.“
„Genau, Preußen.“ Lorna nickt mir freundlich zu. „Ich weiß Bescheid. I`m a summer frischler, you know! Ich schaue mir alles an. Heute wollte ich an den Stechlin. Die Seen hier erinnern mich an zu Hause.“
„Mich auch.“ Ich lache und gebe ihr die Hand. „Christopher Lewis. Ich komme aus Kanada.“
„Lorna Sauter. Welche Gegend denn in Kanada?“
„Toronto.“
„Da war ich noch nicht ... Aber erzählen Sie mir von dem Dorfplatz ier! Er ist so riesig!“
Dazu braucht sie mich nicht zwei Mal einzuladen. Ich setze mich auf die Bank und hole weit aus. Der Friedensplatz in unserem Dorf ist der größte Dorfplatz Deutschlands: 200 mal 400 Meter. In der Mitte steht eine Friedenseiche, 1870 nach dem Deutsch-französischen Krieg gepflanzt wurde. Auf dem Platz haben schon dänische und schwedische und französische und russische Truppen kampiert. Blücher, Napoleon, Katharina die Große: Alle waren da. Hitler. Ulbricht. Schröder. (Merkel nicht) (Noch nicht) Ich zeige reihum: Dort gab es früher ein Lebensmittelgeschäft mit Kaffeerösterei, dort eine Tischlerei, dort eine Kohlenhandlung. Eine Metzgerei hier, eine Hebamme da, eine Fahrradreparaturwerkstatt dort. Eine Shelltankstelle an der Ecke, die Straße runter die Sattlerei, die Böttcherei, ein Friseur. Und heute? Nichts mehr. Nur noch ein Geschäftchen auf der Hauptstraße. Nur für das nötigste.
„Der ehemalige Konsum.“
„Genau.“
Lorna kennt sich wirklich gut aus. Sie lässt ihren Blick über den Platz schweifen. „Viele Städte würden sich freuen, einen solchen Platz zu besitzen, Christopher. Schauen Sie nur - wie klein die Menschen auf der anderen Seite sind!“ Sie deutet auf einige Radfahrer, die es sich für ein Picknick auf der Wiese bequem gemacht haben. „Alles das ist sehr nah aufeinander. Die Häuser, meine ich.“
Ich nicke ihr zu. „Das macht das Zusammenleben ja so spannend.“
Lorna betrachtet unser Haus. „Wissen Sie, ich bin auf der Suche nach meinen Vorfahren. Mein Nachname ist Sauter. Eine Frau namens Sauter hat in Ihrem Haus gewohnt, vor ungefähr 150 Jahren.“
Eine Vorfahrin von Lorna in unserem Haus? Ich schleife sie über die Straße in unsere Küche; sehr zu Lornas („Mein Bus!“) und Phoebes („Ich sehe furchtbar aus!“) Überraschung.
„Liebling, darf ich dir Lorna vorstellen? Ihr Nachname ist Sauter, ihre Urururururoma hat in diesem Haus gewohnt und ihr seid vielleicht Verwandte!“, extrapoliere ich.
Triumphierend blicke ich sie an, stolz, in der kurzen Zeit so viel herausgefunden zu haben. Lorna wiegelt mit „Urururur-keine-Ahnung“ ab und Phoebe hasst mich, weil ich sie mal wieder in Verlegenheit bringe. Während sie in die Küche eilt, um Tisch und Stühle von unserem Plunder freizuräumen, führe ich Lorna durchs Haus: momentan eine Baustelle. Wir richten auf dem Dachboden ein drittes Appartement ein.
Ich erkläre Lorna die Bauarbeiten. „Der Boden ist jetzt fertig, die Säcke mit der Holzwolle sind oben, die Treppe ist heraus- und an anderer Stelle wieder hereingemacht; der Boden des anderen Dachbodens, also der über dem eigentlichen Dachboden, ist herausgerissen und wird jetzt wieder hereingemacht. Wenn wir damit fertig sind, fehlen nur noch Fenster und Wände und wir haben einen neuen Dachboden!“
Lorna konnte mir nicht folgen und ich fange nochmal von vorne an. „Der Boden, Lorna, ist drin. Die Säcke mit der Holzwolle ...“
„Herrgott, Christopher, lass Lorna in Ruhe! Du langweilst sie zu Tode!“, ruft Phoebe. „Kommen Sie lieber herunter, Lorna, ich habe Kaffee gemacht! Lassen sie ihn einfach stehen!“
Bei einem Stück Zwetschgenkuchen erzählt Lorna, warum sie in unserem Dorf ist. Vor einem Jahr starb ihr Mann und sie wusste nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Irgendwann beschloss sie, eine Familienchronik zu schreiben (das machen Amerikaner ja gern) (okay, Kanadier auch) und sie fand viel raus. Sie zeigt uns ein Fotos von zu Hause. Typisch Amerika, das Kaff aus dem sie kommt. Gesichtslos, eigentlich nur eine Straßenkreuzung. Aber die Häuser unverkennbar deutsch.
Fast Schinkel.
Lorna ist seit drei Wochen hier. Die Spuren ihrer Familie in unserem Dorf reichen zurück bis ins 19. Jahrhundert. Sauters waren Waldarbeiter gewesen, gehörten zu den Kolonisten, die jenseits des Kanals eine neue Siedlung gründeten („Was man früher Kolonisten nannte! Sie kamen aus Berlin!“, ruft Phoebe). Friedrich der Große hat Riesenprogramme aufgelegt, um Brandenburg zu besiedeln. Er gab denen Geld, die mit ihren Familien aufs Land zogen und es urbar machten. Die Leute hatten Steuerfreiheit, brauchten keinen Militärdienst zu leisten und bekamen einen eigenen Prediger.
„Also wie ist es, Phoebe, hast du in deiner Familie Leute, die Sauter hießen?“, frage ich gespannt.
„Sauter ... ich weiß nicht ... vielleicht ... da klingelt was ... da müsste ich mal rumfragen ... es gibt eine Legende von früher, dass eine Frau von dem abgebrannten Gehöft von außerhalb ins Dorf zog. Sie bekam drei Kinder. Eines Tages fand man sie erschlagen im Wald auf dem Weg zum See. Den Mörder hat man nie gefunden und die Kinder wurden von der Dienstmagd aufgezogen. Später verschwand ein Kind, und es hieß, es sei im Keller verscharrt worden.“
Lorna hüstelt. Ich sehe ihr die Neugier an. Aber auch die Bedenken, sich uns nicht aufzudrängen zu wollen. Ich habe einen Einfall.
„Es gefällt Ihnen doch nicht in der Waldpension, Lorna! Warum ziehen Sie nicht zu uns?“
„Du kannst doch nicht unseren Nachbarn ihre Feriengäste abjagen, Christopher!“, zischt Phoebe.
„Kann ich sehr wohl, liebe Phoebe! Lorna ist alleinreisend. Was soll sie in einer Familienpension? Bei uns ist es lustiger! Und interessanter!“
Lornas Blick pendelt zwischen uns hin und her.
„Sie haben die Ruine praktisch für sich!“, preise ich unsere Ferienwohnung an.
„Wir nennen es nur Ruine, Lorna“, beruhigt Phoebe. „Es ist ein hübsches kleines Häuschen mit Garten. Trotzdem ist der Komfort natürlich nicht vergleichbar mit der Waldpension ...“
„Unsinn! Wir haben SAT-Fernsehen und DVD-Recorder. Sie können jeden Morgen ABC gucken. Und in der Küche ist ein ausziehbarer Esstisch, ideal zum Schreiben von Familienchroniken. Ein Geschirrspüler, ein Kühlschrank! Haben Sie in der Waldpension einen Geschirrspüler, Lorna?“
„Was soll Lorna in der Waldpension mit einem Geschirrspüler ...“
„Alte Möbel und Spitzendeckchen! Ihr Amerikaner liebt das doch! Alles Original, Klöppeldingsda.“
Phoebe wird ernst. „Was bezweckst du eigentlich mit deiner Ahnenforschung, Lorna?“
Lorna bezweckt nichts. Sie will wissen, wer ihre Leute sind.
„Das kann aber auch schiefgehen“, murmelt Phoebe. „Manchmal will man es gar nicht so genau wissen.“
„Ich schon. Meine Familie ist Ende des 19. Jahrhunderts ausgewandert. Sie sind keine Nazis und keine Stasi. Schlimmer kann es ja wohl nicht kommen.“
Sie nimmt unsere Wohnung und zieht aus der Waldpension aus. Jeden Tag arbeitet sie an ihrer Familienchronik. Sie trägt sehr viel Informationen zusammen. Ihre Ahnen sind 1772 in die U.S.A ausgewandert. Das Ganze war staatlich organisiert war und Vertreter der preußischen Regierung verteilten die Leute in den Staaten über das Land. Sie gingen nach Pennsylvania gingen, in ein Land, in dem die Horizonte noch weiter waren als in Brandenburg. Sie bauten ein Blockhaus, dass an die Häuser russischer Kolonisten in ihrer Heimat erinnerte. Zuerst betrieben sie eine Pferdemetzgerei, dann eine Schmiede. Später wurden sie Milchbauern. Lornas Vater studierte Agrarwirtschaft in Philadelphia. Seine Kinder Zachary und Lorna schickte er auf eine Handelsschule. Zachary hat heute noch die alte Farm im Nebenerwerb.
Lorna telefoniert mit ihm. "Das Dorf ist wunderschön, Zachary ... es würde dir gefallen ... die Landschaft friedlich ... der unseren gar nicht unähnlich ... voller uralter Alleen ... Kopfsteinpflaster ... einsame Seen ... ohne Höhen und Tiefen ... ins Endlose gezogen ... als ob man einen Weitwinkel im Auge hätte ... riesige Felder ... im Sozialismus Kollektiveigentum ... kannst du dir vorstellen, dass sie 1949 die Großgrundbesitzer enteignet haben? ... was für ein Einfall ... sie sind in den Westen ausgewandert ... die meisten jedenfalls ... Deutschland war in zwei Hälften geteilt ... bis 1984 ...“
„89!“ (Ich)
„Pscht!“ (Phoebe)
„Das Haus hab ich gefunden ... steht direkt am Dorfplatz .... ich wohne drin ... bei einem jungen Ehepaar ... einm Kanadier und seine Frau ... würde mich nicht wundern, wenn ich mit Phoebe verwandt wäre ... nein, keine Nazis ... „
„Auch keine Stasi!“ (Ich)
„Pscht!“ (Phoebe)
Es ist ein sengend heißer Sommer und das Neuroofener Forstamt gibt Waldbrandgefahr Stufe IV heraus. Das Holz ist knochentrocken und überall knistert und knackt es. Lorna und Phoebe arbeiten zusammen im Garten. Die beiden verstehen sich prächtig. Lorna liebt Phoebes Garten, was die beste Voraussetzung dafür ist, von Phoebe zurückgeliebt zu werden. Meine Frau lässt es sich nicht nehmen, sie zu bekochen. Sie hat die Theorie, dass wir auch in den „harten Wintermonaten“ viel Essen für die „Wintergäste“ zur Verfügung haben müssen (weder haben wir harte Wintermonate noch Wintergäste). Lorna ihrerseits ist fasziniert von Phoebes Manie, Vorräte anzulegen. Als befänden wir uns noch im Dreißigjährigen Krieg. Sie machen zusammen Birnen ein.
Lorna erzählt uns, wie schrecklich die Geschichte unseres Dorfs war. Dauernd wurde es plattgemacht. Es war die zentrale Einfallstraße nach Berlin für den Osten. Und für die Dänen und Schweden.
„Ist das normal für deutsche Dörfer, dass sie so eine Geschichte haben?“, fragt Lorna.
„Nein“, sage ich, „das war ein sehr umkämpftes Gebiet.“
Phoebe ergänzt: „Nur die ersten Tage und Wochen nach dem Zweiten Weltkrieg müssen furchtbar gewesen sein. Flüchtlingstrecks aus Pommern kamen durch, auf der Straße von Fürstenberg nach Rheinsberg. Viele blieben hier.“
„Was ich nicht kapiere, ist wie man so ein kleines Dorf bombardieren kann“, sagt Lorna und zeigt auf die Ruine hinter dem Haus, die nie wieder aufgebaut wurde.
„Das war ein Irrtum. Sie wollten Wolfsruh treffen, da hatten die Nazis eine Munitionsfabrik.“
„Was wurde aus dieser Fabrik?“
„Die Nationale Volksarmee hat sie übernommen. Jetzt sitzt die Bundeswehr drin.“
Wochenlang bekommen wir Lorna jetzt kaum zu Gesicht, sie recherchiert im Landkreis. Sie fährt mit unserem kleinen Fiat nach Rheinsberg, Fürstenberg. Zehdenick und Caputh. Sie unterhält sich mit einem Haufn Leuten, immer auf der Suche nach ihren Vorfahren. Das Kirchenarchiv Gransee erweist sich als Missgriff. Bis 1933 wurde es zwar akribisch geführt, aber dann kam die Nazizeit: Keine Einträge mehr. 1947 lief der Pfarrer mit fliegenden Fahnen zum Sozialismus über und machte nur noch sporadisch Einträge. Die Hälfte der Mitglieder der (altlutherischen) Kirche brach weg, die andere Hälfte blieb indifferent.
„Wir hatten eine Junge Gemeinde, die ab und zu Veranstaltung organisierte, da ging ich manchmal hin“, sagt Phoebe.
Eines Tages rennt Lorna triumphierend in unsere Küche. Sie schwenkt ein paar Kopien. „Hey, hört zu! Eure Kirche wurde 1624 aus Feldsteinen gebaut. Alle mussten helfen, diese Kirche in Schuss zu halten – die Albrechts, Wolfs, die Schellings, die Wenzels. Und, jetzt kommts: die SAUTERS“
Sie hatte ihre Verwandten gefunden.
„Zwei Brüder namens Sauter halfen mit bei der Dachausbesserung. 1746 gab es Streit um die Sitzplätze in der Kirche. Sie beanspruchten welche, bekamen sie aber nicht. Nur die Bauern hatten damals Anspruch auf Sitzplätze. Und der Dorfschulze und der Schmied. Und der Müller. Der Rest waren Hausbesetzer.“
„Hausbesitzer, Lorna.“
„Ich wünschte, ich wüsste, wer sie waren!“
„Vermutlich Kolonisten“, meint Phoebe. „Bestimmt haben sie unten am Kanal neben der Mühle gewohnt.“
Lorna hat Kopien von historischen Fotografien dabei. Vom Dorfplatz, vom alten Bahnhof, vom Restaurant, vom See, vom Kriegerdenkmal. Auch von unserem Haus. Die Aufnahme ist von der Mitte des Dorfplatzes gemacht, aus dieser Perspektive sieht es aus wie ein Gutshaus. „Der Pfarrer will sich melden, falls er noch was findet!“
„Christopher, was hältst du davon, wenn ich mal mit dem Bürgermeister rede, wegen meinen Vorfahren?“ Lorna steckt den Kopf durch die Tür.
„Er ist ein Vollidiot“, winke ich ab. „Hat keinen Sinn. er stammt auch nicht von hier. Er kommt aus Sachsen. Hat sich eine Feriensiedlung unten am See unter den Nagel gerissen, und dann ist er selbst, statt nur zu vermieten, hier hängen geblieben. Schließlich hat er sich wählen lassen. Er ist verantwortlich für lauter Schwachsinnsentscheidungen, zum Beispiel das Kopfsteinpflaster zu überteeren, die Grundschule zuzumachen und einen Speedway für Motorräder in den Neuruppiner Forst zu setzen.“
Trotzdem. Lorna will nichts unversucht lassen.
Der Bürgermeister kommt eine Viertelstunde später zur Sprechstunde. „Ich bin auf der Autobahn im Stau hängengeblieben.“ Er nickt mir zu. „Christopher.“
Ich nicke zurück. „Frank.“
Wir haben seit dem Frühjahr kein Wort mehr gewechselt.
Lorna beginnt, ihm ihre Sache auseinanderzusetzen. Sie komme aus Philadelphia, habe Vorfahren im Dorf, wolle herauskriegen, wer sie sei, und käme gern an öffentliche Unterlagen.
Frank wirft mir einen Blick zu. „Hast du ihr nicht gesagt, dass ich aus Meißen komme? Woher soll ich das wissen? Sie soll zum Archivar des Orts gehen.“
„Herrgott, Frank. Du bist der Archivar.“ Es ärgert mich schon die ganze Zeit, dass er nicht die dörfliche Liste der unnatürlichen Tode weiterführt, die 1935 endet. Als wäre seit dieser Zeit hier mehr im Dorf umgebracht worden.
„Ich kann Ihnen nicht helfen, gute Frau.“
„Die gute Frau heißt Lorna.“
„Danke, Christopher, ich kann für mich selbst reden.“
„Lorna also. Ich bin erst vor zehn Jahren hierhergezogen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wer Ihre Vorfahren waren, und warum in Drei Teufels Namen sie nach Kanada ausgewandert sind.“
„In die Staaten.“
„Warum sie in die Staaten ausgewandert sind.“
„Vielleicht können Sie uns Ihr Archiv zugänglich machen?“
Er schüttelt den Kopf. „Welches Archiv? Das Archiv ist in Gransee. Das hättest du ihr auch sagen können, Christopher.“
„Ich habe es ihr gesagt. Aber Lorna wollte dich unbedingt kennenlernen, weil ich ihr erzählt habe, was für ein dufter Typ du bist! Du hättest sie wenigstens nach ihrem Nachnamen fragen können, Frank.“
Sein Handy klingelt und er brüllt rein: „Es ist mir egal, was dein Bruder sagt, er hat noch nie auf einem Motorrad gesessen! Die Motorräder machen nicht mehr Lärm als die Sägen der Waldarbeiter. Mit dem Speedway kommen Touristen in unsere Gegend. Harley-Davidson kommt zu uns.“
Er knallt den Hörer auf. „Immer die gleiche Debatte ... Waren wir hier durch?“
„Sauter.“
Er rollt mit den Augen. „Herrgott. Halb Deutschland heißt Sauter, Lorna. Fahren Sie nach Gransee.“ Er schichtet seine Unterlagen auf dem Schreibtisch um. „War nett, Sie kennenzulernen, Lorna! Sagen Sie Ihren Landsleuten, dass die Mark Brandenburg der schönste Landstrich der Erde ist! Woher kommen Sie? Philadelphia?“
Phoebe ruft ihre Eltern an, um etwas über Sauters herauszukriegen. Onkel Franz müsste was wissen, also geht sie zu Onkel Franz. Unser Haus wurde ursprünglich nur für eine Familie gebaut, sagt er, aber nach dem Krieg wurden vier Mietparteien hineingeteilt. Zwei unten, zwei oben. Eine alleinstehende Frau mit Kind, ein Busfahrer, eine Kleinfamilie mit Zwillingen und Axel Sauter. 1962 hatte Axel genug Geld, allein zu ziehen. Aber leider starb er, vor 26 Jahren schon. Er ist immer ein Einzelgänger geblieben, hat nie geheiratet.
Wir laufen hinüber zu dem Haus. Die Fassade trägt noch den öden braunen DDR-Putz. Der Garten ist genauso groß wie unserer, zugewuchert und zugeramscht. Verrostete landwirtschaftliche Maschinen stehen herum, eine Güllepumpe, ein Mähdrescher, ein Pflug. Zwei alte Motorräder. Das Weideland völlig verfilzt. Wir finden ein offenes Kellerfenster. Ich klettere hindurch und taste mich durch das modrige Gewölbe ins Erdgeschoss. Trotz der Hitze draußen ist es drinnen kalt wie in einer Gruft. Oben lasse ich die beiden Frauen herein. Überall auf dem Boden stehen und liegen Tüten, Eimer, Körbe, zerbrochenes Geschirr, Schachteln. Ein russischer Samowar. Schubladen sind aufgezogen und Stühle umgeworfen. ein Spielplatz für Kinder. Die Zimmer sind hässlich und schmutzig, besonders das Schlafzimmer. Es besteht nur aus einfachen Holzmöbeln, Bett, Schrank, Stuhl. Kissen und Decken liegen auf dem Boden verstreut, die Matratzen sind zuoberst gekehrt und aufgeschlitzt. Schranktüren klaffen auf und alte Kleider hängen heraus.
„Du, Christopher, was ich dich fragen wollte – ich wollte mal zum Friedhof raus. Wegen Axel. Sein Grab besuchen.“
Lorna kommt zu mir auf den Dachboden geklettert. Phoebe ist in die Stadt einkaufen gefahren.
„Da findest du eine Menge alter Grabsteine. Da ist was zusammengekommen im Lauf der Jahrhunderte. Weißt du was, ich begleite dich!“
Wir gehen hinten raus. Der Sandweg zum Friedhof führt in den Wald. Der Friedhof ist lang gezogen und rechteckig. Die Grabsteine gehen zurück bis ins 17. Jahrhundert und wir lesen Namen wie Lübben, Gierick und Noack. Ein trapezförmiges Ehrenfeld ist angelegt worden für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, dahinter Urnengräber in einem Hain. Das Erbbegräbnis einer Adelsfamilie – enteignet und in den Westen geflüchtet – war zu DDR-Zeiten als Schweinefutterlager benutzt worden.
Axel Sauters Grab finden wir schnell. 81 Jahre war er geworden, der alte Axel. Auf dem Grabstein steht nur sein Name und wann er gelebt hat. Daneben sind zwei neue Gräber: Eine Maria Noack, gestorben mit 74, und eine Elisabeth Gierick, 82. Das von Maria Noack wuchert schon mit Unkraut zu.
„Viele Tote dieses Jahr“, bemerkt Lorna.
„Viel Hitze dieses Jahr.“
Neben Axel liegen andere Sauters. Von früher finden wir ein Familiengrab, fast an der Grundstücksgrenze. Erst denken wir, es könnten die Grabstellen für die Kolonisten sein, aber die haben eine eigene Abteilung.
Eines Tages steht der Pfarrer vor der Tür und fragt nach Lorna. Weil sie unterwegs ist, lässt er einen DINA4 Umschlag für sie da. Lorna will, dass ich es ihr vorlese, als sie zurück ist:
Axel war bei jeder Gelegenheit im Dorf zur Stelle und kümmerte sich gegen ein kleines Entgelt um alles Erforderliche. Er fegte die Kirche und den Gemeindesaal, reinigte für den Lehrer die Schultafel und besserte die Möbel aus. Er mähte den Dorfplatz und versorgte Inhaftierte im Gefängnis am Spritzenhaus mit Lebensmitteln. Wenn Leute früh aufstehen mussten, ging er sie wecken. Nachdem er seinen Soldatendienst absolviert hatte, eröffnete er einen kleinen Kohlenladen am Dorfplatz. Den Laden hat er 1992 zugemacht, als er in den Ruhestand ging. Nach dem Krieg trat er erst der National-Demokratischen Partei Deutschlands im Osten, der NDPD, bei, später der SED. Er unterstützte aktiv die Enteignung der Besitzer des Erbgutes Zernikow und die Bodenreform des sozialistischen Staates. In seinem Haus in der Rheinsberger Straße führte er einen Kohlenladen.
Lorna geht in Pits Bierhof, um etwas über Axel herauszukriegen. Das gelingt ihr auch. Nach großem Palaver rund um den Tisch – alle scharen sich um Lorna (erste Heiratsangebote werden gemacht) – finden sie heraus, dass der alte Axel nicht ihr letzter lebender Verwandter im Dorf ist. Es gibt noch Otto Hanke. Der führt mit seiner Frau in Neuglobsow eine Feriensiedlung und dahin soll sie fahren.
Am nächsten Morgen steht Pit vor dem Haus. Er hat ein Muskelshirt und eine ärmellose Jeansweste an und trägt eine schwere Schlüsselkette am Gürtel. Klar, dass er ein Befürworter des Speedwayprojekts im Wald ist.
„Ist Lorna da?“
Ich stehe auf dem Gerüst und repariere gerade die Regenrinne. „Was willst du von ihr?“
„Was gehts dich an?“
„Herrgott! Lorna! Besuch für dich! Ein hässlicher dicker Mann mit fettigen Haaren!“
Lorna macht sich gerade fertig, um nach Neuglobsow fahren.
„Ich komme wegen dem Broiler noch mal, Lorna.“ Pit blättert in einem Wörterbuch. „To broil heißt also kochen und über sieben Ecken heißen unsere Hähnchen hier deswegen Broiler. Beziehungsweise wie im Fall von der Menükarte in meinem Bierhof, Goldbroiler. Obwohl das Hähnchen nicht gekocht, sondern gebraten ist.“
„Gekocht heißt boiled, Pit“, sage ich, Nägel zwischen den Zähnen.
„Schnauze Ich frag Lorna.“
„Christopher hat recht. Kochen heißt to boil und so kommt der Boiler zustande.“
„Wasserboiler zum Beispiel, Pit.“
„Schnauze!“
„To broil heißt braten, und im Englischen ist das das Brathühnchen“, erklärt Lorna.
„Wirklich? Jetzt mal angenommen, ich ersetze unseren Broiler durch das hochdeutsche Hähnchen, dann würden es die internationalen Gäste schlechter verstehen?“
Ich kann nicht anders: „Welche internationalen Gäste, Pit?“
Er rüttelt am Gerüst. „Komm runter, Blödmann!“
Phoebe steckt den Kopf durchs Fenster. „Was ist hier los? Hast du sie noch alle, am Gerüst zu rütteln?“
Pit greift grüßend an seine Baseballkappe. „Dein Mann geht mir auf den Geist. Ich wollte ihn runterschütteln und vordas nächste fahrende Auto werfen.“
„Er geht uns allen auf den Geist, Pit, aber lass das Gerüst in Ruhe, ja?“
Pit wendet sich wieder Lorna zu.
„Dabei habe ich letzte Woche erst den Broiler aus der Karte genommen! Was wohl bei den Japanern wohl im Wörterbuch steht, wenn sie nach unserem Broiler suchen?“
„Keine Ahnung. Ich kann kein Japanisch.“ (Lorna)
„Ich glaube, sie suchen nach dem Wort Broiler.“ (Ich)
„Japaner in Pillgow?“ (Phoebe)
„Wisst ihr was? Ihr könnt mich mal.“
Pit zieht wieder ab.
„Neuglobsow, Christopher?“
„Neuglobsow.“
Anobella - 14. Okt, 08:16
LG aus den Herbstfarben
B.